Wir müssen mit alternativen Wohnkonzepten die Innenstädte beleben, damit sie nicht veröden.
01.04.2021 von Annedore Hof (stattVilla)
Die Hausgemeinschaft stattVilla, in der ich lebe, ist ein gemeinschaftliches Wohnprojekt in der Innenstadt von Bielefeld. Sie feiert am 1. April ihr 10jähriges Wohnen. Aber wie feiert man in Zeiten von Corona mit Kontaktbeschränkungen, geschlossenem Gemeinschaftsraum, Masken und Abstand? Für Ideen sind wir dankbar.
Geschenke hat es schon gegeben. Von Anton Hofreiter, Christine Hannemann und Pit Clausen. Das sind keine unbedeutenden Menschen. Sie kennen das Wohnprojekt stattVilla aber nicht. Eine Ausnahme bildet Pit Clausen- nehmen wir mal an. Alle drei sprechen ein existentielles Thema an – das Wohnen -, dem wir mit unserem Projekt ein Beispiel setzen. Darum sind ihre Gedanken ein wunderbares Geschenk, das mit Begeisterung angenommen wird – als eine Anerkennung für das Wagnis, ein Wohnprojekt vor fast 20 Jahren zu planen und für den Mut und die Ausdauer, seit 10 Jahren immer noch darin zu wohnen.
Anton Hofreiter hat sein Geschenk bereits im Februar an uns geschickt. Er hat am 12. Februar 2021 in einem Spiegel-Interview einen Felsbrocken losgetreten. Denn einen Tag später war in allen Zeitungen zu lesen und in den Nachrichten zu hören: Die Grünen sind gegen Einfamilienhäuser. Medienwirksam wurden seine Überlegungen auf diesen Satz verkürzt. Aber sie waren von Erfolg gekrönt. Denn nun kam endlich diese längst überfällige Diskussion in die Öffentlichkeit, die sich mit der Zersiedlung, dem Flächenverbrauch, der Infrastruktur, dem Klima be-schäftigte, wenn das Häuschen im Grünen das begehrenswerte Wohnprojekt bleibt. Hofreiter kritisiert die Neubausiedlungen an den Stadträndern mit Einfa-milienhäuschen. Sie fordern viel Fläche, viel Baustoff, viel Energie und bedeuten mehr Verkehr in die Stadt und zur Arbeit. Ihm fehlt ein ausgewogenes Konzept für die Wohnraumbeschaffung. Er verweist auf den knappen bezahlbaren Wohn-raum, auf die begrenzten Flächen und vorhandene nicht genutzte Leerstände. Ein positives Beispiel findet er in Hamburg, wo aktuell ein Neubaugebiet nicht mit Einfamilienhäusern bebaut wird.
Am 19. März hat seine Partei in einer großen Online-Konferenz das Thema „Städte neu denken“ in 18 Workshops mit Gästen ausführlich diskutiert. Jutta Allmendingen , Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin, leitete die Konfe-renz ein, indem sie die These vertrat: Nichts ist dem Menschen wichtiger als ein Wir-Gefühl und sozialer Zusammenhalt.
Christine Hannemann ist kämpferisch. Sie hat uns am 16. März 2021 beschenkt. Auch mit einem Spiegel-Interview. Hannemann ist Prof. für Wohnsoziologie an der Universität Stuttgart. Sie unterstützt Hofreiters Gedanken, führt sie aber de-taillierter aus und setzt sich für gemeinschaftliche Quartiere in den Innenstädten ein, umgeben von Bäumen und Grünflächen. „Uns fehlen Bäume, aber keine frei-stehenden Gebäude aus Stein und Beton, in denen nur vier Menschen wohnen. “Ökologischen Wahnsinn“ nennt sie das. Die Kosten für die Infrastruktur der Stadtrandsiedlungen sind immens. Aber die Politik unterstützt solche Wohnformen- diesen Wahnsinn! – mit Pendlerpauschale, Baukindergeld, Steuervorteilen.
Hannemann fordert, dass sich Baukonzepte am Gemeinwohlgedanken orientieren, dann können große innerstädtische Quartiere mit Gemeinschaftsflächen entstehen (das Sonnenwendquartier in Wien ist dafür ein Paradebeispiel). Ein Mehr an gemeinschaftlich genutzten Räumen verringert die Fläche für den Privatgebrauch. Konkret heißt das, viel weniger Quadratmeter für den Rückzug ins Private. Sie fordert weiterhin, dass Bund, Länder und Kommunen ihren Grund und Boden nicht mehr privatisieren, um ihn dann zu Höchstpreisen zu verkaufen.
Hannemann vermerkt, dass die Menschen noch nicht an alternative Wohnfor-men denken und auch nicht die veränderten Wohnbedürfnisse in Bezug auf die verschiedenen Lebensphasen im Blick haben.
Pit Clausen, Oberbürgermeister von Bielefeld und Vorsitzender des Städtetages in NRW beschenkt uns am 19. März in der NW. Er macht sich nämlich Sorgen um die Innenstädte. Aufgrund der seit mehr als einem Jahr bestehenden Pandemie und den immer wieder verordneten Schließungen der Geschäfte befürchtet er Brüche im innerstädtischen Raum. Er spricht darum von einem neuen Funktions-mix in den Innenstädten, der aus Event, Gastronomie und Wohnen bestehen könnte.
Hofreiter, Hannemann und Clausen sei Dank. Sie haben stattVilla beschenkt zum zehnjährigen Geburtstag. Wir nehmen alle Geschenke gerne an, denn wir fühlen uns bestätigt mit unserer Wohnform. Wir leben das Beispiel gemeinschaftliches Wohnen. Damit sind wir in Bielefeld in guter Gesellschaft: weitere sechs Wohn-projekte gibt es außer der stattVilla und alle in der Innenstadt oder den Zentren der Außenbezirke. Und im Hinblick auf die Eigentumsfrage bieten die Bielefelder gemeinschaftlichen Wohnprojekte die ganze Palette rechtlicher Möglichkeiten. Es gibt ein Mietprojekt mit einem privaten Investor, ein Genossenschaftsprojekt, Projekte mit Eigentumswohnungen und Mischprojekte, in denen Mietwohnungen (freifinanziert und gefördert) und Eigentumswohnungen unter einem Dach vereint sind. Sieben Projekte sind realisiert, zwei weitere sind in Planung.
Wir wünschen uns für selbstorganisierte gemeinschaftliche Projekte eine Förde-rung, denn wir liegen fest in der Zeit und auch in der Zukunft. Wir wünschen uns Investoren, die solche Projekte nicht nur finanzieren, sondern deren Zielsetzung kennen und unterstützen. Wir wünschen uns Architekten, die neue Formen der Gestaltung entwickeln können in Gemeinsamkeit mit den Mietern oder Eigentü-mern. Architekten, die kreative Ideen für die Umwandlung von Gewerbe in Wohnräume entwickeln. Wir wünschen uns Genossenschaften, die das Potential erkennen, das in einem selbstverwalteten Wohnprojekt liegt.
Wir wünschen uns vom Land und der Kommune Werbung und Anreize für eine gemeinschaftliche Wohnbebauung. In Bielefeld gibt es Flächen, die nicht den Einfamilienhäuschen den Vorrang geben dürfen. Wir wünschen uns die Förderung auch für Baugemeinschaften, die mit gemeinschaftlichen Projekten der unterschiedlichsten Art die Innenstädte in belebte Quartiere verwandeln.
Wir können die Innenstädte vor der Verödung retten. Aber wir müssen gehört werden. Und gefördert.
Wie anregend kann doch ein Geburtstag in Zeiten der Pandemie sein.