Was ist ein selbstorganisiertes Wohnprojekt?

Selbstorganisierte Wohnprojekte sind eine Antwort auf sich verändernde Lebensumstände in der Gesellschaft. Die (Klein-) Familie ist nicht mehr die unumstrittene Lebensperspektive. Das Aufkommen neuer Arbeitsformen und die gestiegene Mobilität haben in den letzten Jahrzehnten alte Verbindlichkeiten und Sicherheiten aufgehoben und Leerstellen hinterlassen, die nun durch neue selbst gewählte Formen von Gegenseitigkeit ergänzt oder ersetzt werden. Die neuen Wohnprojekte begegnen der Vereinzelung von Menschen in verschiedensten Lebenslagen und schaffen neue Formen des Miteinanders, indem sie dem Bedürfnis nach mehr Nähe, Verbindlichkeit und Gemeinschaftlichkeit wie auch dem Wunsch nach aktiver Gestaltung im Wohnumfeld Rechnung tragen. Selbstbestimmt über den Charakter des Wohn- und Lebensortes zu entscheiden und bürgerschaftlich Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung der Stadt sind die Beweggründe für viele Menschen, die sich auf den Weg in ein selbstorganisiertes Wohnprojekt machen.

Gemeinsame Merkmale

  • Ein Wohnprojekt ist ein Zusammenschluss von Menschen, die in guter und bewusst gestalteter Nachbarschaft individuell, aber auch gemeinschaftlich miteinander leben wollen.
  • Unabhängig davon, ob das Gebäude aus eigenen Mitteln oder von Dritten erbaut und vermietet wird, ist den Projekten zu eigen, dass sie die Belange des Hauses und der Hausgemeinschaft in die eigenen Hände nehmen und demokratisch organisieren. Das schließt auch die Vergabe von freien Wohnungen ein.
  • Wohnprojekte zeichnen sich in der Regel auch dadurch aus, dass sie ihren gemeinschaftlich genutzten Bereich für Aktivitäten öffnen, die ins Quartier ausstrahlen. Wohnprojekte stellen dadurch oftmals einen integrativen Faktor für das Quartier dar.
  • Über das reine Wohnen hinaus verbindet die Menschen im Projekt ein gemeinsames Ziel. Menschen in Wohnprojekten wollen neben ihrem individuellen Privatleben die Verlässlichkeit und Nähe einer Gemeinschaft erleben, aufeinander achten und einander unterstützen.

Selbstorganisierte Gemeinschaft und Wohnungsbelegung

  • Wohnprojekte organisieren ihre Verwaltung meistens selbst. Über die Menschen, die ins Haus einziehen, aber auch über die Organisation des Hauses entscheiden die Mitglieder. Dies gilt nicht nur für Projekte im Eigentum. Auch Mietprojekte haben mit ihren Vermietern neue Formen der Kooperation und Selbstverwaltung gefunden und vertraglich geregelt. Viele Projekte bilden auch Genossenschaften oder eine besondere Form der GmbH (z.B. das Mietshäuser Syndikat).
  • Dies alles dient dazu, auch langfristig die gewünschte Wohnform lebendig zu halten und sicher zu stellen, dass bei einem Wechsel der Bewohner/-innen wieder Menschen in das Projekt einziehen, die sich mit den bestehenden Zielen verbunden fühlen.

Die eigene Wohnung in gewählter und gewollter Nachbarschaft

  • In der Regel verfügen die Projektmitglieder über ihre eigene abgeschlossene individuelle Wohnung.
  • In vielen Projekten fällt die Wohnung kleiner aus, weil für selten gebrauchte Wohnfunktionen die Gemeinschaftsräume bereitstehen. Das große Esszimmer etwa, das nur an wenigen Tagen im Jahr benötigt wird, kann entfallen, wenn man für Feste den Gemeinschaftsraum buchen kann.
  • Gelegentlich werden auch andere Modelle und Mischformen entwickelt, in denen der private Bereich der einzelnen Mitglieder nicht so klar definiert ist und die eher der Idee der Wohngemeinschaft entsprechen. Zum Beispiel in größeren Wohnungen, mit einem gemeinsamen Wohn- Arbeits- und Küchenbereich und privaten Kleinstappartements für den individuellen Rückzug.
  • So unterschiedlich, wie die Bedürfnisse nach Nähe und Distanz bei den Projektmitgliedern ausgeprägt sind, haben sich die dazu passenden Wohnungsformen entwickelt.

Gemeinschaftsfördernde Raumnutzung

  • Wohnprojekte haben in der Regel neben den einzelnen Wohnungen einen Gemeinschaftsbereich, der allen Mitgliedern zur Verfügung steht. In den meisten Projekten ist dies mindestens ein Gruppenraum. Hinzu kommen oftmals eine Gästewohnung, Gemeinschaftsgärten und -werkstätten etc.
  • Diese Bereiche sind angelegt als Orte der Begegnung und des gemeinschaftlichen Tuns und bieten viel Spielraum für Aktivitäten, die über das reine Wohnen hinausgehen.
  • So gibt es in vielen Projekten kulturelle Veranstaltungen, Angebote für Kinder, ältere Menschen und spezielle Interessensgruppen, und zwar für Menschen im Projekt wie auch für die Nachbarschaft im Quartier.

Gemeinsame Ziele als übergeordnetes Projekt-Merkmal

  • Neben der Entscheidung, sich zusätzliche Räumlichkeiten zu teilen, pflegen viele Wohnprojekte zudem persönliche oder gesellschaftspolitische Ziele, die sie in ihre Satzungen und Verträge schreiben. Einige Beispiele:
  • Mehrgenerationenprojekte, die Wert auf Teilhabe, Kommunikation und Aktivität von Jung bis Alt legen.
  • Soziale Projekte, die günstigen Wohnraum in den Städten erschließen.
  • Seniorenprojekte mit gegenseitigen Verbindlichkeitsregelungen oder selbstorganisierten Pflegearrangements als Alternative zum Pflegeheim.
  • Mischprojekte für Wohnen und Gewerbe, die Leben und Arbeiten unter einem Dach ermöglichen.
  • Frauenprojekte wie die Beginen, die seit dem Mittelalter Frauen ein freiheitliches Leben ermöglichen und dies in die Gegenwart übersetzen.
  • Projekte mit multikultureller, LGBT-, inklusiver, ökologischer, landwirtschaftlicher, bodenpolitischer oder allgemein politischer Prägung.

Engagement über das Haus hinaus – für das Quartier und für die Kommune

  • Kaum ein selbstorganisiertes Wohnprojekt bleibt für sich allein. Fast alle Gruppen wenden sich mit Angeboten an die Nachbarschaft und darüber hinaus.
  • Die geschaffenen Räumlichkeiten und das gewollte Zusammenspiel vieler Talente machen es möglich, Ideen über den privaten Gebrauch hinaus zu verwirklichen und Leben und Vielfalt ins Viertel zu bringen.
  • Kinderspiel- und Krabbelgruppen, Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Vorträge und Diskussionsabende, Spiele- und Kinozeiten und vieles mehr können in den gemeinschaftlich genutzten Räumlichkeiten veranstaltet werden.
  • Solche Angebote können niederschwellig angelegt sein, sowohl für die Initiator/-innen wie für die Gäste.

Wohnprojekte – Chance für die Kommune

  • Die Mischung aus unterschiedlichen Haushaltsformen, Generationen, Nationalitäten und Einkommensgruppen in den Gemeinschaften bereichert das Quartier mit Vielfalt und verhindert Gentrifizierung.
  • Städtische Nachbarschaften stabilisieren und harmonisieren sich.
  • Kommunale Hilfesysteme werden entlastet, weil der Grad an selbst organisierter Hilfestellung im Projekt steigt.
  • Wohnprojekte nehmen Einfluss auf die Bauform und schaffen überwiegend höherwertigere und nachhaltigere Architektur. Projektbauten sind oftmals ortsprägend und schaffen Identifikationspunkte.
  • Das bürgerschaftliche Engagement belebt die Quartiere.
  • Projekte leisten ihren Beitrag zur Stadtentwicklung‚ aus der Mitte, nicht von oben.
  • Sie sind ein Baustein bei der Problemlösung des demografischen Wandels.